© Neue Sirene™



Gabriele Holst          

Die Rückkehr, die keine war

Die Dämmerung überraschte ihn. Sie hatte schon die Dächer der Häuser erreicht. Der Mann
lief schneller. Unter seinen Stiefeln knarzte der Schnee. Das Vorwärtskommen war mühsam.
Immer wieder rutschte er aus, suchte halt an Bretterzäunen.
Jetzt war es nicht mehr weit. An der großen Scheune mußte er links abbiegen. Mit dem letzten
Tageslicht erreichte er das Haus. Die Linde stand noch davor. Hinter ihm ging die Straßenlaterne
an. Ihr Lichtkegel half dem Mann, das Türschild zu lesen: Weiß, las er. Nichts weiter als: Weiß.
Kein Vorname. Einfach nur: Weiß. Sein Name. Lebten seine Eltern noch? Sie wären jetzt über
neunzig. Möglich wäre es.
Der Mann hob die Hand, doch plötzlich fühlte er Scheu. Er meinte, in einen tiefen Frieden einzu-
dringen, würde er jetzt klingeln. Er machte drei, vier Schritte zurück, schaute am Haus empor.
An mehreren Stellen war der Putz abgeblättert. Sogar Einschusslöcher entdeckte er. Fünfund-
vierzig Jahre nach dem Krieg. Oben war alles dunkel. Unten waren die Läden geschlossen.
Durch einen Spalt drang schmales Licht. Georg Weiß fühlte sich beobachtet. Er klingelte.
Eine Frau erschien im Türrahmen. Sie füllte ihn fast ganz aus. So eine Statur hatte außer ihm
nur eine in der Familie: seine Schwester. Aber er war sich nicht sicher. Er konnte ihr Gesicht
nicht erkennen.
»Sie wünschen?«, fragte die Frau. Sie erkannte ihn also auch nicht. Die Stimme klang nicht
freundlich.
»Lisa?«, fragte der Mann und trat einen Schritt zur Seite, damit sein eigener Schatten nicht das
Licht der Laterne verdunkelte. Jetzt sah er ihr Gesicht. Ja, es war Lisa. Wer sonst sollte in dem
Haus wohnen?
»Ja, das bin ich. Aber wer sind ...« Ihre Stimme stockte. Sie beugte sich vor. »Georg?« Sie ging
einen Schritt auf ihn zu. »Georg!« Sie hielt ihm die Hand hin. Er wollte seine Schwester umarmen,
aber sie ließ es nicht zu: »Das sind wir hier nicht gewohnt«, sagte sie, zog ihn aber zwei Stufen zur
Tür hinauf.
Er betrat hinter seiner Schwester das Haus. Im Korridor roch es alt. Sie führte ihn in die Küche.
Hier ist es warm. Georg erkannte des Tisch wieder. Auch die Eckbank, das Büffet und die Stühle
waren noch dieselben. Herd und Kühlschrank waren neu, relativ neu. DDR-Ware, dachte Georg,
obwohl er nie vorher DDR-Ware gesehen hatte. Wirklich neu, Neue-Bundesländer-neu war nichts.
[...]



Hauptmenü Inhalt aller Ausgaben Aktueller Band Digitale Ausgaben zum Herunterladen Presse Konzeption Autoren Kunstfotografien Termine Email/Webimpressum Anzeigen Bestellung