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Axel Barner          

Anekdote über den Einfluss indischer Musik aufs Haarschneiden

Mein indischer Friseur spricht ausschließlich Telugu1. Telugu klingt in etwa so, wie es geschrieben wird, klingt also wie eine lange Reihe bauchiger Zeichen, mit Öffnungen mal nach oben, mal nach unten, mal zur rechten, mal zur linken Seite. Manchmal sind die Buchstaben durch einen waagrechten oder einen senkrechten Strich in der Mitte geteilt. Wenn mein indischer Friseur mit seinen Kunden spricht, während ich warte, so wiederholen sich die langen Rhythmen runder Zeichen in seinem Mund, die ich beim Durchblättern der ausliegenden Illustrierten wiedererkenne. Als ich an die Reihe komme und mich auf das mit grauen Klebestreifen reparierte und verstärkte rote Sitzpolster des Frisierstuhles setze, hält mein Friseur bereits Kamm und Schere in den Händen.
»Erst waschen«, sage ich, »dann schneiden, hinten etwas kürzer als oben.« Er lächelt mir im Spiegel zu, wiegt seinen Kopf hin und her und beginnt, mir die Haare zu schneiden.
»Waschen«, sage ich noch einmal, »zuerst bitte waschen!«
Wieder lächelt er, wieder wiegt er den Kopf hin und her und schneidet weiter. Erst jetzt bemerke ich, dass es im indischen Friseursalon kein Waschbecken gibt.
Die Musik ist zu Ende. Mein Friseur hält im Schneiden inne, lächelt, wiegt den Kopf hin und her, wechselt die Musikkassette – und schneidet weiter.
Mein indischer Friseur weiß genau, wann er sich vom Haupthaar ab- und dem Nackenhaar zuwenden muss, um schließlich wieder über dem linken oder rechten Ohr anzukommen. Im Rhythmus der indischen Operettenfilmmusik arbeitet sich mein indischer Friseur um meinen Schädel herum, nimmt zuerst auf der linken etwas weg, dann auf der rechten, wendet sich dann dem Nacken zu, dann dem Haupthaar, ist plötzlich wieder auf der linken Seite, widmet sich dann wieder dem Haupthaar, beginnt mit dem Nacken von neuem. Ganz der Musik hingegeben, ganz ihrem Rhythmus folgend, lässt er, mal ruhig, mal dramatisch sich steigernd, seine Schere über meinem Schädel klappern, bis jedes Haar fünfmal nach vorn, fünfmal nach hinten gestrichen und zehnmal gekürzt ist. [...]

Saint Germain, Mai – August 2004

1 Dravidische Sprache Südindiens.



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