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Abdellatif Belfellah

Labyrinth

(...)
Ich führte das Leben eines Stummen und war der ideale Zuhörer, was mir unter anderem Himmel nie gelungen
war. Doch tat mir meine Stummheit weh. Mir war die Herablassung mancher Menschen unerträglich, und noch
unerträglicher die Unmöglichkeit, an gewöhnlichen Gesprächen teilzunehmen, banale Wünsche zu äußern. Ich war
wie ein Langstreckenläufer, dem unerwartet die Beine versagen – nun muß er lernen, ohne Beine auszukommen.
Mehr als unter dieser Sprachlosigkeit litt ich physisch unter einer Art existentiellem Analphabetismus. Klarissa
verbarg ich mein Leiden, mehr aus Mangel an Wörtern als aus Weisheit. Zuhause war ich wie das Kind, welches
von seiner Mutter in die Sprache initiiert wird. Sie zeigte auf die häuslichen Gegenstände, diese benennend, und ich
sprach ihr nach. So lief die Lektion täglich ab, sei es am Küchentisch oder im Wohnzimmer. Es war kein Unterricht
im gewöhnlichen Sinn; ich machte mich mehr mit den Lauten der Sprache als mit der Sprache selbst vertraut. Sie
redete, ich hörte zu oder wiederholte Worte, die ich vergeblich versuchte, akzentfrei auszusprechen. In der Hoffnung,
daß ihre gedehnte, überdeutliche Aussprache mir helfen würde, den Sinn ihrer Worte zu erschließen, bemühte sie sich,
langsam zu artikulieren. Wir hielten uns eisenhart und mit Strenge an unseren gemeinsamen Pakt: Nur deutsch und nichts
als deutsch miteinander zu sprechen. Ein teuflischer Pakt, der mich verstummen ließ, unser Zusammenleben erstickte
und es auf merkwürdige Weise vor den jedem Ehepaar geläufigen Zänkereien vorübergehend schützte.
Wir führten keine Gespräche als Mann und Frau.
(...)


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