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Judith Katzir

Disneyel

[...]
Hier ist Doktor Morgenstern, wie ein Skelett in seinem weißen Kittel, kommt den langen Gang herunter auf mich zu, unscharf und aufgebracht
wie ein Busfahrer hinter den beschlagenen Scheiben an einem Regentag, dem seine Fahrgäste eine Last sind, und er sagt, die Operation sei
gelungen und es bestehe Hoffnung, und es würde noch ein paar Stunden dauern, bis man dich aus dem Erholungsraum holt, es würde sich
lohnen, wenn ich ginge und später oder sogar morgen früh erst wiederkäme. Aber ich fühle mich regelrecht wohl hier. Die Alten
in den Perfektionsbetten haben sie bereits woanders zum Warten hingebracht, und im Fernsehen zeigen sie jetzt Zeichentrickfilme. Inwischen habe
ich, ohne es zu merken, über die Hälfte der Mozartkugeln vernichtet, von denen du jeden Abend vor dem Schlafengehen eine gegessen hast,
wie eine Arznei, sie mußten lange vorhalten, und deshalb mußte ich eigens um Erlaubnis bitten, um mir eine von denen zu nehmen, die dir
Michael in roten Blechschachteln mit goldener Aufschrift aus Österreich mitbrachte, denn die österreichischen Katzenzungen, die er mir
mitbrachte, verputzte ich innerhalb einer Minute. In Israel gab es nur Katzenzungen von Lieber, mit der Reklame »Lieberzungen – immer
gelungen«, die wir in der Matinee-Vorstellung im Armon-Kino sahen, zwischen der Wochenschau in Schwarzweiß, in der berichtet wurde,
daß Nasser gestorben war und nicht mehr auf Rabin wartete, und dem Film »Vom Winde verweht«, in dem du, wie mir scheint, einmal geweint
hast, als Scarlett O´Hara, in einem herrlichen grünen Samtkleid, das sie sich zum Ball aus einem alten Vorhang genäht hatte, weil sie arm war,
ihre Kirschenlippen Rhett Butler darbot, und er sie nicht küßte, und das ganze Publikum lachte, und ein zweites Mal am Schluß, auf der Treppe,
die Michael jetzt in seinen neuen, ständig knarzenden Schuhen und seinem weißen Safarianzug heraufkam, und ich wartete am Eingang auf ihn,
während du dich noch schnell ein bißchen mit dem Narzissen-Parfüm eingesprüht hast, das er dir einmal mitbrachte, und Michael hob mich hoch
in die Luft, küßte mich mit seinem stacheligen Schnurrbart und seinem guten scharfen Geruch auf die Wange und sagte, wie groß du geworden
bist, meine Schönheit, und manchmal, mein kleiner Engel, und dann umarmte er dich und sagte dir etwas Geheimes ins Ohr, und du hast gelacht
und zu ihm gesagt, Dummkopf, und warst plötzlich jung wie auf den Bildern aus der Schulzeit, von der Armee und der Hochzeit – die ich dabei
habe, um sie dir zu geben, wenn du aufwachst. Vater und Otek waren schon längst auf den Fußballplatz gegangen, nur wir waren da mit dem
Tee und dem Käsekuchen, den du nur ein Mal im Jahr bukst, denn beim zweiten Mal war es ein Apfelstrudel, der sogar besser als in Österreich
war, sagte Michael, und er trank den blassen Tee und aß nur ein klitzekleines Stück von dem Kuchen, denn er hielt sich bei Süßigkeiten immer
zurück, weil er nicht dick werden wollte, und dann öffnete er seine große Tasche, die eine Unmenge Aufkleber aus allen möglichen Ländern in
allen möglichen Sprachen schmückte, und holte eine grüne Flasche französischen Champagner, die Schokolade und die Geschenke heraus, die
mit jedem Mal größer wurden, dicke weiche Farbstifte und eine Uhr mit Mickey-Mouse-Bild, und am herrlichsten war die erwachsene Puppe,
die ein paar Worte auf Deutsch sagen konnte und einen Koffer mit massenhaft Kleidern zum Wechseln hatte, so daß sie Ärztin, Stewardeß oder
Fotomodell sein konnte, und dir brachte er Parfüm, Ohrringe mit grünen Steinen, die wie Augen leuchteten, und einen elektrischen Haartrockner
mit, und dann holte er den braunen Aktendeckel mit der Aufschrift Disneyel heraus, eine Kombination aus Disney und Israel, und dazu noch
Michael, schlug ihn auf und breitete den Inhalt auf dem Tisch aus, nach ein paar Jahren auch auf dem Sofa, und noch ein paar Jahre später auch
auf dem Teppich, die ganzen Seiten mit Berechnungen, dünne und dicke Spalten mit Zahlen, und die Bilder vom echten Disneyland in Amerika
mit einer riesigen Mickey Mouse und einem überdimensionalen Donald Duck, die ich nur aus Filmen von Geburtstagen kannte, denn damals gab
es noch nicht viele Häuser mit Fernseher, und auch wir hatten keinen – Bilder, von denen du eins aufgehoben hast, eine Mickey Mouse, mit der
sich Michael fotografieren ließ, vielleicht ist es der Joker in deiner Bilder-Patience. Und zarte Buntstiftskizzen von Riesenrutschbahnen und
Riesenrädern, von denen Michael in Deutschland bereits ein gebrauchtes gekauft hatte, von Seilbahnen, neben denen die gezeichneten
Menschenfiguren wie winzige Ameisen neben dem Kuchen aussahen, den Michael fast ganz auf seinem Teller liegenließ, von furchterregenden
Geisterbahnen und komplizierten Schienenwagen, von einem Spiegelkabinett, in dem man sich einmal dick und einmal dünn, einmal hübsch und
einmal häßlich, einmal wie ein Kind und einmal ganz alt sah, und einem Teich mit weißen Segelbooten und Schwänen, am Ufer ein großes Café
mit weißen Gartenstühlen mit hohen Zierlehnen, runden Tischen und bunten Sonnenschirmen, einem Orchester und einer Tanzfläche, sogar die
riesigen Eisbecher auf den Tischen hatte Michael gezeichnet, denn von gemaltem Eis wird man nicht dick, und während er auf dem Teppich
herumkroch, erzählte er schnell und laut von all den neuen perfekten Anlagen, die er zu erfinden gedachte, von finanziellen und anderen
Hindernissen, die sich in Wien und Amerika und hierzulande auftürmten, sich der Errichtung seines Disneyels im Galil oder im Negev in den Weg
stellten, und von einem sehr reichen Juden, der sich tatsächlich für das Projekt interessierte, ihn unterstützte und versprochen hatte, ein Treffen
mit Walt Disney persönlich für ihn zu arrangieren. Und dann legte er sich auf den Rücken, schnaufend und keuchend zwischen Riesenrad und
Teich, und du hast ständig zufrieden vor dich hingelächelt, und ich stürzte mich auf ihn, um inzwischen mein privates Disneyel von ihm zu kriegen,
und Michael ergriff meine ausgebreiteten Hände, legte seine Füße in den weißen Socken gegen meinen Bauch, stemmte mich hoch und sagte,
Fluuug-zeug, und ich fragte, ob er so ein Flugzeug auch mit dir machen könnte, und du hast gelacht, und Michael hob auch dich auf die gleiche
Weise hoch, und du flogst durch die Luft und hast gelacht und gelacht, doch plötzlich fielst du auf ihn drauf, dein neues Kleid verknitterte, dein
grünglänzender Ohrring fiel in den Teich, und Otek und Vater kamen mit dem Fußball zurück, in kurzen blauen Jeans und mit großen
Schweißflecken auf den Hemden, und du und Michael seid aufgestanden, und du hast ruhig dein Kleid in Ordnung gebracht, hast den Ohrring
von der Zeichnung auf dem Teppich aufgehoben, auch den zweiten aus dem Ohr genommen, und Michael zog schnell seine Schuhe an, glättete
sein verstrubbeltes Haar und drückte Vaters Hand, und Vater sagte, wie geht´s dir, und Michael sagte, alles in bester Ordnung und bei dir,
klopfte Otek auf die Schulter und sagte, hello, big boy, gab ihm eine Spritzpistole oder so etwas und sagte, er müsse jetzt gehen, er werde erwartet.
[...]

Tr. from Hebrew by Barbara Linner


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