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Ruth Fruchtman          

Begegnung

Als sie der Frau begegnete, war sie vier. Die Frau war mager, sie war nur noch Knochen, eine Bohnenstange, ein Klappergestell,
sprach eine sonderbare rauhe Hustensprache. Ihre Hände zitterten, sie war ganz Unruhe, Bewegung, ein bewegter Knochen,
hätte es bloß Zigaretten gegeben, ihre Augen spähten ruhelos umher. Wenn sie sprach, redeten ihre Arme mit, große flatternde
Ärmel, eine Fledermaus. Sie kam von irgendwoher, erschien einfach in ihrem Leben.

Das Kind nahm sie auf, die verängstigten Augen, die sprechenden Hände, den schäbigen, ausgefransten Mantel, der ihr nicht gehörte,
sie hatte ihn von einem Stapel genommen, oder jemand hatte ihn ihr zugeworfen, als sie die Sachen verteilten; sie hatte es kaum gemerkt,
als man ihn ihr um die Schultern legte, sie suchte nach einer Zigarette. Oder sie hatte den Mantel gegrapscht, ihn einfach genommen, sah
nicht ein, wieso sie ihn nicht nehmen sollte, alle nahmen alles. Oder sie war mit dem Mantel durch den Stacheldraht geklettert, daher hing
er so an ihr. Den Stacheldraht krallig in den Augen, als sie jetzt dasaß, vor sich hinstarrte, Hände rastlos zupfend; zupfte, zupfte an ihrem
Leben, ihren Erinnerungen, an Dingen, die das Kind nicht verstand, zupfte an ihrem zerfetzten Leben.
Zerriß es. Paffte an der Zigarette, die ihr jemand gerollt hatte.
Das Kind sah den Stacheldraht in ihren Augen.

Die Frau blieb eine Weile bei ihnen, dünn, verhärmt, sprach wenig, sprach viel, fuchtelnde Hände wie die Flügel einer Windmühle,
Windmühlenarme mahlten den Wind, mahlten die Luft, erzählte, erzählte mit den Händen, mit der rauhen Stimme ihre Geschichte. Sie hatte
niemanden, sie war allein. Das Kind war vier oder fünf Jahre alt und wußte nichts. Sie nannte die Frau Polen, weil sie von dort kam.

[...]


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