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Guillermo Aparicio

Geschrieben zu Paris im Carneval 1837

Ich hatte es tatsächlich sehr eilig, aber in jenem Antiquariat brannte Licht. Sonst war es dort
immer duster gewesen, wenn ich abends vorbeifuhr. Über Tag war ich immer wieder vor
verschlossener Tür gestanden. Inzwischen hatte ich jenes Antiquariat praktisch abgeschrieben,
zumal ich mir von ihm nicht viel versprach. Es ist ja auf alte Postkarten spezialisiert, im
Schaufenster hat es selten Bücher, und wenn doch, dann irgendwelche Bilderbücher über
Uniformen und Lokomotiven.

Fast abgeschrieben. Aber ausgerechnet an jenem Abend im Februar, an dem ich es wirklich
sehr eilig hatte, brannte da drinnen Licht, und ich fuhr mit der Straßenbahn vorbei.

[...]

Die Ampel schaltete auf grün, ich ging über die Straße, bog aber dann nicht nach links ab, wo
die Lebensmittelläden alle sind, ich bog nach rechts ab, wo das Licht im Antiquariat brannte.
Der Antiquar, ein junger Mann mit roten Backen und hohen Stiefeln, saß an einem
Schreibtisch mitten im Raum und ordnete alte Postkarten.
»Ich suche eine alte Ausgabe von Don Quijote.« Statt zu erwidern »Tut mir leid, so was habe
ich nicht«, fragte er knapp: »Wie alt?« »Na, ja, es kommt darauf an.« Ich dachte, er scherzt
oder blufft. Nein, er scherzte nicht und bluffte auch nicht. Er fuhr fort: »Ich habe nämlich vor
paar Tagen was bekommen, eine schöne Ausgabe mit hübschen Illustrationen, in Stuttgart
erschienen...« Mir hüpfte das Herz in der Brust: »Sag jetzt bloß nicht, daß sie im Jahre 1837
erschienen ist ...« Und prompt hörte ich, wie im Traum, wie er weiterredete: »... erschienen im
Jahre 1837.« Ich versuchte, keine Miene zu verziehen: »Jetzt darfst du nicht deine Aufregung
zeigen, denn das treibt gewiß den Preis in die Höhe.« Der junge Antiquar war indessen
aufgestanden, hatte aus einem hohen Regal zwei braune Bände mit Goldrücken runtergeholt
und sie mir überreicht. Zitternd öffnete ich den ersten Band. Ich suchte nach der Einleitung.
Da war sie auf Seite XLV: »Einleitung von Heinrich Heine«. Auf Seite LXVI stand dann:
»Geschrieben zu Paris im Carneval 1837. Heinrich Heine.« Also doch, kein Zweifel.

Ich bemühte mich um einen kühlen Ton, als ich nach dem Preis fragte, und schloß die Augen,
um die Wirkung des erwarteten Schlags einzudämmen. Nein, der große Schlag blieb aus, und
meine Geldbörse zeigte sich kooperativ.

Schwerelos verlief der Rest des Abends: Schwerelos kaufte ich ein, schwerelos fuhr ich hoch,
schwerelos fuhr ich wieder runter, schwerelos lief ich zum Spanischen Zentrum, wo sich
meine Deutschschüler darüber wunderten, daß ausgerechnet ich mich um eine halbe Stunde
verspäte. Ich erzählte ihnen die Geschichte in allen Details und sie erteilten mir die
Absolution: »Deine Verspätung ist mehr als begründet.«

Die zwei braunen Bände des Don Quijote mit der Einleitung von Heinrich Heine haben in
meiner Bibliothek den Ehrenplatz neben einem unscheinbaren, verschlissenen, im Jahre 1945
in Madrid erschienenen Buch eingenommen, einer Jugendausgabe des Don Quijote, die mir
meine Mutter gekauft hatte. (Wie sie es schaffte zu sparen, wo es nichts gab?). Ich muß um
die sechs gewesen sein. Daraus las ich jahrelang meiner Mutter vor, während sie nachmittags
im sonnenbeschienenen Erker nähte, strickte oder flickte. Irgendwann brachte mich das Leben
unerwarteterweise auf die Wege der höheren Bildung und auf die Irrwege der noch höheren
Einbildung, und jenes Buch, wie vieles andere aus meiner ungebildeten Kindheitswelt,
verschwand aus meinem Blickfeld, zumal ich fest davon überzeugt war, jene Jugendausgabe
sei, ähnlich wie die durch und durch mißlungene Zusammenfassung, die Erich Kästner für
Kinder zusammengestellt hat, eine Umarbeitung des Originaltextes. Um so größer und
schöner war Jahrzehnte später meine Überraschung, als ich beim letzten Besuch bei meiner
Mutter das verschlissene Buch entdeckte und feststellte, daß es sich um den Originaltext
handelt, bloß in einer gekürzten Fassung. Wen wundert es, daß ich dieses Buch mitnahm und
ihm den Ehrenplatz in meiner Bibliothek zuwies? Ich bin mir sicher, in seiner Gesellschaft
fühlt sich Heinrich Heine pudelwohl.


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