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Guillermo Aparicio

13 Jahre Haft

[...]

Jetzt hatte ich wieder grünes Licht. So interessierte ich mich für den Grund, warum Manuel sich
mitten in der Woche einen freien Tag genommen hatte. Zum Landgericht war er gegangen. Nein,
nicht wegen seiner selbst. Das hätte mich sehr gewundert, denn nichts hasst er so sehr wie Anwälte
und Rechtsstreitigkeiten. Wäre er in eigener Sache zum Gericht gegangen, hätte er mir das nie
erzählt, denn er hätte sich dafür geschämt. Einmal hatte er einen Rechtsstreit mit dem Vermieter, und
es kam zu einem Prozess. Obwohl er dabei gewann, hat er mir nie davon erzählt. Von seiner Frau
habe ich es erfahren, die mir dabei soviel wie verboten hat, Manuel je zu verstehen zu geben, dass
ich es weiß.

Nein, nicht wegen seiner selbst hatte er fast einen ganzen Tag bei Gericht verbracht. Ein Spanier, ein
Galicier wie er selbst, war vor Gericht gestanden. Des Mordes angeklagt. Er soll seine Frau, seine
deutsche Frau getötet haben. Erwürgt.

»Ein merkwürdiger Fall, ein trauriger Fall, ein Trauerfall. Da ist ein Mann, Mitte dreißig, in sich
versunken und zusammengesunken. Obwohl er für einen Spanier eher groß ist, wirkte er, wie er da
saß auf der Anklagebank, winzig. Merkwürdig, er wirkte zugleich wie ein Kind und wie ein Greis.
Verstört war er, völlig verstört. Die Dolmetscherin neben ihm, eine weißhaarige Großmutter mit
hellen, gütigen Augen, bemühte sich darum, ihn zu beruhigen, fast mütterlich. Ich hatte das Gefühl, er
verstand gar nichts. Ich meine nicht gerade die Sprache, die verstand er schon im Großen und
Ganzen, mehr im Großen als im Ganzen. Die Einzelheiten, die juristischen Finessen entgingen ihm
gewiss. Zum Teil entgingen sie mir auch. Auch ich hätte hie und da die Hilfe der alten Dolmetscherin
gebraucht, die sich rührend darum kümmerte, dass er alles verstand. Nichts verstand er, das war
offensichtlich. Er hatte seine Frau getötet, ohne etwas zu verstehen. Er verstand seine Tat nicht, er
verstand die Anklage nicht, die Verteidigung auch nicht, das Urteil erst recht nicht.
13 Jahre haben sie ihm aufgebrummt, genau die Strafe, die der Ankläger beantragte. Als er das
Urteil hörte, fing er an zu schluchzen, herzzerreißend. Ich musste mich zusammennehmen, dass ich
nicht gleich mit ihm heulte. Und dabei empfand ich für ihn keine Sympathie, denn ein Mörder ist ein
Mörder, auch ein Mörder im Affekt ist ein Mörder. Mitleid empfand ich auch nicht. Du weißt,
Mitleid hasse ich. Mitleid degradiert, es degradiert den Mitleidenden und den Mitgelittenen. Nein,
Mitleid empfand ich nicht. Eine Art Solidarität empfand ich. Ich weiß selber nicht warum. Nicht nur
deswegen, weil er Spanier, sogar Galicier ist. Vielleicht deswegen, weil er ein Fremder ist, der unter
die Räder gekommen ist, unter die Räder des Fremdseins. Vielleicht erkenne ich in ihm einen Teil
meiner selbst, denn Fremdsein ist zu meiner zweiten Natur geworden. Gerade in dem Maße, in dem
ich mich anpasse, in dem ich aufhöre, fremd zu sein, wird mir umso bewusster, dass ich ein Fremder
bin und bleibe. Nur, ich habe das Glück, eine Intimsphäre zu haben, in der ich nicht fremd bin. Aber
jetzt stell dir vor, du bist in der Arbeit fremd, auf der Straße fremd, im Zug fremd, im Bus fremd, bei
den Ämtern fremd und dann auch noch zu Hause fremd! Das hält kein Mensch aus. Kannst du dir
vorstellen, du lebst Tag und Nacht mit einer Frau zusammen und kannst dich mit ihr nur halbwegs
unterhalten? Der arme Kerl kann soviel Deutsch, dass er in der Arbeit und auf der Straße, in der
Kneipe und im Laden auskommt. Aber zusammenleben! Das ist was ganz anderes! Da muss man
alles verstehen, bis in den letzten Winkel alles verstehen, was deine Frau sagt, was sie nicht sagt und
was sie sagen möchte. Da musst du die Zwischentöne genauso mitkriegen wie die Haupttöne. Und
genauso nuanciert musst du dich auch ausdrücken können. Stell dir vor, Guillermo, das Meiste und
das Wichtigste bleibt ungesagt oder unverstanden. Wo führt das hin? Ins Irrenhaus oder ins
Gefängnis. Oder gleich auf den Friedhof. Seine Frau konnte ein bisschen Spanisch, er konnte nicht
genug Deutsch. Alles nur halb oder ein Viertel. Keine Mauer kann dadurch abgebaut werden, die
Mauer wird immer höher. Und du lebst Tag und Nacht mit dieser Frau, die du nicht ganz verstehst,
wenn sie in ihrer Sprache spricht, die nur fetzenhaft redet, wenn sie in deiner Sprache redet, die dich
kaum versteht, wenn du in deiner Sprache sprichst, die dich nur fetzenhaft reden hört, wenn du in
ihrer Sprache sprichst. Der reine Wahnsinn. Der Turm zu Babel war dagegen ja nur ein Kinderspiel,
denn dort ging es nur um Verständigungsprobleme am Arbeitsplatz. Hier geht es um
Verständigungsprobleme zu Hause, am Tisch, im Bad, im Bett. Weißt du, wie die Zeitung diese
Schwierigkeiten beschrieb? Als ›ethnische Differenzen‹. Der Journalist, der so was geschrieben hat,
weiß nicht, wovon er redet. Er hat Glocken läuten hören, weiß aber nicht, woher der Laut kommt.
Die Ethnie hat damit gar nichts zu tun. Die Sprache, Guillermo, die Sprache, die du mit Recht immer
wieder in den Mittelpunkt des Lebens stellst, was dich mir so sympathisch macht. Deine Liebe für
die Sprache und dein Sinn dafür verbinden mich wahrscheinlich am ehesten mit dir, trotz deiner
hohen Bildung und deiner nicht geringen Einbildung. Und jetzt versuch, dir vorzustellen: Mit deiner
Frau teilst du nur Fetzen deines Lebens und von ihrem Leben kriegst du nur Fetzen mit. Stell dir vor,
keinen einzigen Konflikt kannst du richtig bereinigen, kein Missverständnis kannst du restlos klären,
kein Misstrauen kannst du überzeugend entkräften ... Was für eine Mauer da nach und nach wächst
... Bis du nicht mehr kannst und dir Luft verschaffen willst und abhaust oder säufst oder dir das
Leben nimmst ... oder ihr das Leben nimmst. Was glaubst du, was der letzte Anlass gewesen sein
soll: Sie soll ihn mitten im Streit hijo de puta genannt haben, Hurensohn. Er habe daraufhin die letzte
Beherrschung verloren und sie erwürgt. Und genau dieser Punkt war für den Verteidiger von großer
Bedeutung. In seinem Plädoyer ging er ganz ausführlich darauf ein, was die Mutter für einen Spanier
bedeute, das Höchste und Heiligste und Unantastbarste auf der Welt, das absolute Tabu. Die Mutter
eines Spaniers als Hure zu bezeichnen, sei die höchste Majestätsbeleidigung, das könne kein richtiger
Spanier ertragen. Jeder Spanier sehe dabei rot.
Klar war ich dabei versucht, einzugreifen und eine solche Platitüde zu relativieren. Aber ich war ja
nur ein Zuschauer und Zuhörer, ein Besucher, ich war ja nur Öffentlichkeit. Ich musste mir alles
anhören und dabei schweigen. Schweigen, das höchste Strafmaß, das man mir auferlegen kann.
Als seine Frau ihn Hurensohn nannte, habe er die Fassung verloren, und zwar nicht deswegen, weil
er selbst als Sohn einer Hure bezeichnet wurde, sondern weil seine Mutter als Hure diffamiert wurde.
Und das war für den Verteidiger der wichtigste mildernde Umstand. Von der jahrelangen
Sprachlosigkeit, von der jahrelangen Kommunikationslosigkeit, von den jahrelangen
Missverständissen keine Ahnung und kein Wort.
Er selber tat dabei und dazu nichts, in sich versunken. Selbst wenn er sich zu der Dolmetscherin
rüberbeugte, um sie besser zu verstehen, blieb er in sich versunken. Nicht mal die Dolmetscherin
verstand er. Das sah ich ihm an. Er strengte sich an und hörte nicht zu.
Der arme Kerl war selber zur Polizei gegangen, gleich nach der Tat. Auch das wurde ihm als
mildernder Umstand angerechnet.
6 Jahre war er mit der Frau verheiratet. 13 Jahre Haft hat er gekriegt. 13 Jahre Haft für 6 Jahre Haft.
Nie wieder wird dieser arme Mensch freikommen. Selbst wenn er eines Tages aus dem Gefängnis
entlassen wird, wird er in Haft bleiben. An allem war die Sprache schuld. Die Sprachlosigkeit war an
allem schuld.«

Manuel hatte tatsächlich am Stück geredet. Ganz kurze Pausen hatte er eingelegt, um am Sherryglas
zu nippen. Nicht einmal bei den Pausen unterbrach ich ihn, denn, ich weiß, wenn er in Fahrt ist, muss
man ihn reden lassen, sonst verliert er den Faden und mit dem Faden die Lust und die Laune.

[...]


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