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Helga Gruschka          

Brüder

»Höllisch, aus dem Chaos ragen nur noch Stahlgerippe heraus!«
»Erster Krieg des 21. Jahrhunderts!«
Ich sehe, ich höre, ich spüre, die ganz Welt wird sich ändern.
Der Afghanenteppich unter meinen Füßen verwandelt sich in Kiesboden, mein Vater putzt sein
Reitpferd, es ist früh am Morgen, ich darf helfen, der Nachbar schaut zu. Ich reiche Qualle bis zur
Schulter, die Hände meines Vaters und sein Gesicht sind über dem Rücken des Pferdes. Ich schaue
auf Vaters Hände und versuche die kraftvollen Bewegungen, mit denen er den Striegel durch das Fell
des Pferdes zieht, nachzuahmen. Der Nachbar sagt, er habe in den Nachrichten gehört: »Russland
hat Deutschland den Krieg erklärt.« Der Striegel streicht langsamer, streicht ohne Kraft, verliert die
Richtung, ich schaue hinauf. Vaters Mund, der mir jeden Morgen Späße erzählte, sieht ganz anders
aus, ernst, sehr ernst, er sagt: »Jetzt haben wir den Krieg verloren!«
»Mein Gott, was ist hier passiert!«
»Wo das Symbol der Stadt stand, nur noch eine rauchende Lücke in der Skyline!«
Fatimas schmale braune Hände greifen ins Leere, suchen ihren Gesichtsschleier, seit ihrem 12.
Lebensjahr konnte sie ihr Gesicht dahinter verstecken. Jetzt hat sie ihn abgelegt, abgelegt aus Furcht
seinetwegen verfolgt zu werden. Die braungoldene Haut ihres Gesichts ist stumpf geworden, hat alles
Licht verloren, sie schildert ihre Flucht, ihre Flucht aus einem Land, das jetzt angegriffen,
bombardiert und zerstört werden soll.
»Ein Verbrechen hat die Welt verändert!«
»Wir werden die Täter jagen!«
Fatimas Haut ist grauoliv wie die Uniformen der Soldaten, die Lippen fest aufeinandergepresst, die
Hände mit fahrigen Bewegungen auf der Suche nach etwas, das es nicht mehr gibt. Sie schweigt.
»Hast du noch Geschwister dort?« frage ich.
»Nein«, Fatima senkt den Blick, »mein Bruder ist bei dem Anschlag ums Leben gekommen«.
»Nach dem massenmörderischen Angriff vermutet man Tausende von Toten unter den
Trümmern.«
Ums Leben gekommen. Unter den Trümmern.
»Ihr Bruder ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beim Kampf um Berlin ums Leben
gekommen«, schrieb mir das Rote Kreuz 25 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, denke ich schon ganz selbstverständlich. Vor ein paar Tagen hätte ich
gesagt, nach dem Krieg. Aber jetzt muss man die Kriege wieder numerieren.

[...]


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