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Helga Gruschka          

Schuhe

Vor nicht allzu langer Zeit saßen die Menschen noch zurückgelehnt in weichen Polstern und steckten ihre Füße
in bequeme Pantoffeln. Die Medien begannen gerade erst, sich auf die Kriegsberichterstattung zu konzentrieren,
die ab und zu von kuriosen Glossen unterbrochen wurde. Eines abends flimmerten die Fernsehbilder eines
Prominentenschuhmachers aus Rom in die Wohnstuben. Wie einst der Turm zu Babel stapelten sich Pappkartons
in der Farbe gebrannten Tons in einem Designerladen. Stolz wies ein dunkelhaariger Mann auf seine, wie er sagte,
»selbstgefertigten« Schuhe. »Diese hier«, sagte er, »hat Saddam Hussein bestellt.« Dann wandte er sich nach links,
öffnete einen Karton und fuhr fort: »Und dieses Paar«, liebevoll strich er über glänzendes Leder, »haben wir für
Bush angefertigt.« Schelmisch lächelnd gestand er dem Fernsehreporter, dass bei ihm allerdings kein Paar Schuhe
unter 1000 Euro zu bekommen sei.
Kurz darauf sprach man überall, in den Medien, in der U-Bahn, in den Geschäften, nur noch von »Dem Krieg«. So
schnell wie möglich erledigte ich meine Besorgungen. Ich wollte, ich konnte es nicht mehr hören.
Zu Hause schlüpfte ich vorsichtig aus meinen Schuhen. Ich hatte noch Winterstiefel an. Ich bückte mich, zog auch
meine Strümpfe aus und rieb meine Ballen. Sie waren feuerrot, sie brannten und nur langsam ließ der Schmerz nach.
Emine, vor dreißig Jahren dem Kopftuchdasein Ostanatoliens entflohen, schaute mir zu. »Tut weh«, sagte sie und
machte ein sorgenvolles Gesicht. »Ja, sehr«, sagte ich. »Früher, als ich meine Schuhe noch in der teuren Straße
kaufte, kannte ich solche Probleme nicht«, murmelte ich noch vor mich hin, mehr zu mir als zu Emine.
Emine war wie jeden Dienstag gekommen, um mir zu helfen, meinen Haushalt in Ordnung zu halten. Sie steckte
ihre Hände in signalfarbene Gummihandschuhe, farblich passend zu ihren Ohrclips, wie mir auffiel, zog an jedem
Finger, bewegte die Hände und ballte sie zu Fäusten. »Saddam kaufen Schuhe in Italien! Teuer!« Emine tauchte
den Putzlappen ins Wasser, wrang ihn aus. Die Muskeln an ihren kräftigen Oberarmen spannten sich an. »Aber
für ihn bald keine Platz mehr, wo er Schuhe ausziehen kann«, sagte sie und wischte mit ihrem Lappen einen
unsichtbaren Schmutz in der Luft weg. Sie schaute mich an.
»Ich gehe ja schon!« Barfuß verließ ich die Diele, meine Zehen spürten die Fugen zwischen den Fliesen. »Keinen
Platz mehr, um seine Schuhe auszuziehen«, wiederholte ich und dachte über Emines kurdische Weisheit nach.
Meine Augen folgten den noch schmerzenden Zehen über den gefliesten Boden. Im gleichen Ziegelrot wölbten sich
am Kriegsende 1945 die alten Römersteine über unser Matratzenlager.
»Frauen und Kinder müssen sich verstecken!«, hatte mein Vater gerufen, woraufhin man uns in den so genannten
Römerkeller gebracht hatte. Der Vorratskeller war ein Vorratsraum eines Gutshofs. Er war in einen Keller
hineingebaut und soll tatsächlich zu einem römischen Kastell gehört haben.
»Legt euch hin und seid ruhig, aber behaltet eure Schuhe an, für den Fall daß ihr weglaufen müßt!«, hatte meine
Mutter befohlen. Ich lag auf dem Boden, die Matratze war dünn, es roch dumpf und modrig, die Tür, aus dicken
Bohlen gefügt, war fest verschlossen. Trotzdem hörte ich, wie Granaten über den Hügel jaulten und in den Felsen
explodierten. Von der Hauptstraße dröhnte Rasseln von Panzerketten, meine Füße und mein Rücken spürten, wie
der Boden vibrierte. Meine Zehen taten weh, meine Stiefel waren zu klein, sie drückten. Über mir, an der Decke,
zeichneten Mörtelfugen in das Rot des Ziegelgewölbes graue Straßen, die sich im Schein flackender Kerzen zu
bewegen schienen. Die Linien verzweigten sich, bogen ab, kreuzten sich und verloren sich im Dunkeln. Auf dem
Boden, um mich herum, lagen viele Kinder und Frauen. Ich setzte mich auf, suchte die Augen meiner Mutter und
fragte: »Wohin sollen wir denn noch laufen?«
Emine rückte die Stühle auf der Diele. Sie war anscheinend fertig. Einen Stuhl hielt sie noch mit beiden Händen fest,
als sie sich umdrehte und rief: »Und Bush haben gleiche Schuhe an, wie Saddam!«



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