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André Steiner          

Die Rückkehr

Ich gehe mit gesenktem Kopf die Straße hinunter. Dann sehe ich zum Himmel hinauf. Es ist grau da oben. Es regnet leicht.
Manchmal meine ich zwischen den Wolken ein Gesicht zu erkennen. Doch vielleicht ist es nur eine Erinnerung, ein Bild oder
eine Folge von Bildern. Ich habe das Gefühl, als ob mir jemand zusieht, als ob eine Kamera mit einem starken Teleobjektiv
auf mich gerichtet ist. Möglicherweise ist das ein normales Gefühl, das sich von selbst einstellt, wenn man lange allein ist. Es
fehlt etwas. Man bemerkt es nicht. Ein unsichtbarer Begleiter stellt sich irgendwann ein, von selbst, ohne dass man ihn bestellt
oder sonst irgendetwas dazu getan hätte. Ungefragt ist er einfach da, gibt sich im Selbstgespräch zu erkennen oder stellt ungefragt
die Frage: »Was tust du hier eigentlich? Wie bist du hierher gekommen und warum?«

Ich weiß nicht, warum ich hierher gekommen bin. Das ist es. Es ist November, ungemütlich, windig und nass, eigentlich kein Wetter,
um draußen herumzulaufen. Trotzdem habe ich mich am Morgen in den Zug gesetzt und bin zwei Stunden lang zurückgefahren. Es
war einer von diesen Einfällen, die einem plötzlich kommen, sobald man für ein paar Tage von der täglichen Routine befreit ist.
Es ist einer dieser Feiertage im November, der dieses Mal so gefallen ist, dass sich daraus ein langes Wochenende ergibt. Wie
üblich gehen mir tausend Dinge durch den Kopf. Ich glaube etwas nachholen zu müssen, einen Einkaufsbummel, einen Theater-
oder Kinobesuch, vielleicht auch ein Wochenende bei meinen Eltern oder bei meinen Freunden, die vor Jahren schon aus Neugier
und beruflichen Gründen umgezogen sind. Oder vielleicht einen Wochenendtrip nach London oder Paris. Doch nichts davon sagt
mir wirklich zu. Ich habe, davon bin ich plötzlich überzeugt, all das Hin und Her in meinem Kopf satt. Ich habe, das ist es eben,
alles schon einmal gemacht, gedacht, sogar mehrfach, sodass ich einfach nicht mehr will. Da kommt mir mit einem halb erbost,
halb traurigen Blick aus dem Novemberfenster der rettende Einfall. Ein wenig tränen mir die Augen vor Wehmut. Es ist die Stadt
meiner Kindheit, an die ich denken muss. Als Kind sah ich die Welt noch anders als heute, wo Gleichmut, Gleichgültigkeit und
einfallsloses Weitermachen das Tagesgeschäft bestimmen.

Mir war kalt, als ich am Morgen die Einfahrt des Zuges erwartend auf dem windigen Bahnsteig auf- und abging. Die Stimme der
Zugansagerin hallte unter der hohen Halle wider, und das schnelle Ein- und Ausfahren der Züge ließ mich bis zur Einfahrt meines
Zuges in die Kleinstadt Buxtehude mit Umsteigen in Hamburg-Hauptbahnhof vergessen, mit welcher Absicht ich hierher gekommen
war. Ich hatte niemand davon erzählt, sodass ich unterwegs höchstens zufällig eine mir bekannte Person treffen konnte. Doch das
wäre sehr unwahrscheinlich gewesen, denn es gab insgesamt nur wenige Leute, die sich für mich interessierten. Irgendetwas hatte
mein Gedächtnis umgegraben. Es war wie nach einem langen, tiefen Schlaf. Man wacht auf und weiß im ersten Moment nicht, was
um einen herum geschieht. Noch schlaftrunken fragt man sich: »Wo bin ich?«, bevor man langsam anfängt, die vertrauten Gegenstände
in der vertrauten Umgebung noch einmal mit einem etwas veränderten Blick wahrzunehmen. Wo bin ich die ganze Zeit gewesen? Was
war das für ein Traum gewesen, der mich bis kurz vor dem Wachwerden – das wusste ich noch ganz deutlich – sehr stark beschäftigt
hatte? Es fiel mir nicht mehr ein. Kein Bild hatte die Schwelle vom Traum zum Wachzustand passiert.

Im Zug kam nir ein seltsamer Gedanke. Was geschah eigentlich mit mir? Warum machte ich mir diesen Weg? War das nicht ein Weg
gegen die Zeit? Sollte ich nicht besser nach vorn blicken als zurück? Etwas Neues unternehmen, neue Kontakte herstellen, mich fortbilden,
mich zum Positiven verändern? Ich brauchte nur eine Zeitung aufzuschlagen, und sofort sprangen mir unter der Rubrik »Kleinanzeigen«
die Angebote zur Persönlichkeitsentwicklung ins Auge. Vom Bildungsurlaub über Selbsterfahrungsworkshops, Fernstudium, Musiktherapie
bis hin zu Yoga und und Töpferkursen. Es fehlte nur das Angebot von Sex mit einer Maschine! Draußen flog die Landschaft vorbei.
Manchmal hatte ich das dringliche Gefühl, jetzt etwas unternehmen zu müssen, um mein Leben im letzten Moment doch noch zu ändern.
Doch eine merkwükwürdige Distanz zu mir selbst verhinderte, dass ich irgendetwas in dieser Richtung unternahm. Vorsorglich hatte ich
mir darum weder ein Buch noch einen Compact-Disk-Player eingepackt. Ich musste, als ich an den Zeitschriftenständern und Auslagen
der Bahnhofspresse vorbeiging, widerstehen, um mich einmal ohne Schlagzeilen und Hintergedanken im Kurswagen ganz den »eigenen
Gedanken« zu überlassen, dem Gedächtnis, das sich unbemerkt in den Strom der Überlegungen, Bilder und Wahrmungen einschaltete.
Dem Gedächtnis ausgeliefert, tauchte ich in eine merkwürdige, wie mir schien, immer schon dagewesene Epoche meines womöglich
schon zur Hälfte gelebten Lebens ein. Das Wetter sollte nicht besser werden. Kurze Aufhellungen wechselten mit dunkel zugezogenen
Wolken, trockene Abschnitte mit heftigem Sturzregen. Donner und Blitz blieben aus, dafür war es bereits zu kalt.

[...]



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