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Werner Heickmann          

Der Skorpion

[...]

Es war Christa, die ihn ansprach. Am Pool. Ein Skorpion. Unten im Becken lag ein Skorpion. Ob er ihr helfen könne, das
Tier zu bergen?
Dass sie ihn so ansprach, gefiel ihr sehr. Er tauchte. Kam in seine Nähe. Ließ ihn bewegungslos treiben und tauchte wieder
auf.
Dass er sich mühte, freute sie.
Und das freute ihn.
Sie beratschlagten, voreinander im Wasser stehend, wie sie es anstellen könnten, ihn herauszuholen. Christa holte dann das
Netz mit der langen Stange, das wohl für ähnliche Zwecke bereitlag. Mit wenig Mühe holte sie den Skorpion an die Oberfläche
und ließ ihn in der Sonne trocknen.

Er saß bei dem Skorpion am Beckenrand, die Beine im Wasser baumelnd. Sie hatte gesagt: »Ich komme gleich wieder.«
Das hatte ihn gefreut, dass sie es gesagt hatte. Er hielt Wache bei dem Toten.

Sie kehrte im Laufschritt zurück. Mit einem Buch unter ihrem linken Arm. Lächelte ihm zu. Setzte sich auf die andere Seite
des Skorpions. Öffnete ihr Buch, in das sie schon viele Zeichnungen eingetragen hatte und zeichnete ihn mit schneller Hand
auf eine weiße Seite. Schaute den Skorpion immer wieder an. Zählte seine Beine genau. Auf der einen wie auf der anderen
Seite. Und übertrug alles sorgfältig. Bein für Bein. Sie sagte immer wieder: »Schau hier und schau hier.«
Er tat, als schaute er. Aber eigentlich schaute er in ihr Herz, in das sie gerade den toten Skorpion aufnahm. Dort lag er.
Später fiel ihm ein, dass sie den Stachel vergessen hatte. Sie lachten beide und suchten danach. Als sie auch ihn eingezeichnet
hatte, begruben sie ihn.

Am nächsten Morgen, als die Reiseleiterin das Motiv festlegte, ging er allein hinaus. Stellte seine Staffelei in den Olivenhain
und malte. Er hat ihr das Bild nie gezeigt.
Sie kamen sich nicht näher. Sie waren sich nahe gewesen. Am Ende des Urlaubs gingen sie auseinander, ohne noch einmal
miteinander gesprochen zu haben.

Später, als er sich von seiner Freundin getrennt hatte, erkannte er den Grund, weshalb sein Herz von ihr gegangen war: sie
hätte sich vor dem Skorpion gefürchtet. Vor seinem Stachel und vor seinem Gift. Ihn herausgeholt aus dem Wasser, um ihn
zu zertreten. Den Skorpion.


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