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Dietrich Krusche

Taxi in die Vergangenheit

[...]
Ich stieg hinten ein.

Keine Taxi-Uhr. Der Rückspiegel war abgekippt. Was vom Fahrer, der sich nicht bewegt hatte, zu sehen war, war ein tief unter den Hemdkragen
reichender Haarpelz, der den Kopf auch nach vorne zu umschloß, klein gekräuselte Haare, die von den Seiten in die Stirn hineinwuchsen. Ein
kompakter Mann, reglos auch im Fahren. Ob er sich nach den Ampeln richtete oder nach irgendwelchen anderen Signalen, war nicht zu erkennen.
Er blieb im Pulk, wo er am dichtesten war, den Abstand zum Wagen davor hielt er so klein wie möglich. Beim Museum fuhr er geradewegs auf
den Parkplatz. Er stieg aus, kam um den Wagen herum und hielt mir die Tür auf.
Weder der passende Geldschein noch die zusätzlich fälligen kleinen Münzen ließen sich im Sitzen aus der Hosentasche ziehen. Als ich ausstieg,
blieb er stehen, wo er war, ein Klotz von einem Kerl, ein Engpaß zwischen dem Wagen und ihm, kaum daß ich vorbeikam. Der Geruch nach
Schaf- oder Ziegenstall.
Erst drei Schritte weiter drehte ich mich um.
Ein Hemd, das einmal weiß gewesen war, braune, in Girlanden vom Gürtel hängende Hosen, aufgekrempelte Ärmel, Arme eines Ringers, ein runder
Kopf, dicke Lippen, enorme Nüstern, als habe ein ferner Vorfahr mit einem der Schafe, die er hütete, die Nasen getauscht.
Ich hielt ihm das hin, was ich als Fahrpreis für passend hielt.
Er bewegte sich nicht.
Ich fragte ihn, ob er warten wolle.
Ich fragte ihn, wie lange die Fahrt von hier bis zum Flughafen schlimmstenfalls dauere, was er für das Warten verlange und ob der Smog immer so
übel sei. Mehr fiel mir nicht ein. Eine Möglichkeit herauszufinden, was er verstanden hatte, ergab sich nicht. Angesichts seiner Reglosigkeit eine
plötzliche, unkontrollierte Reaktion meines aktuellen Wortspeichers: er leerte sich.
Der Museumsbau liegt auf einer Hochfläche, die von den kleingefältelten Hügeln, auf denen die Stadt sich auswächst, durch einen Taleinschnitt
getrennt ist. Das Gelände hier ist kahl. Nur gedämpft, wie von jenseits eines breiten Flusses, dringt das Rauschen des Verkehrs herüber. Aber der
Dunst der Abgase, den ein trockener Wind in Wirbeln heranbläst, ist dicht und beizend wie mitten in der Stadt. Das diffuse Licht der nachmittäglichen
Sonne über dem Abgrund, in dem die Häuser und Straßen versunken sind.
Die Museumstür vor mir, das Taxi samt Taxifahrer im Rücken.
Meine Reisetasche.
Auch wenn ich sie nicht sah, sah ich sie auf dem Rücksitz: blaues Segeltuch mit einem gelben Streifen. Meine Hand auf dem Segeltuch. Warten
nebeneinander in Abflughallen, auf Omnibusse am Straßenrand, das Schlafen nachts auf Bahnhofsbänken, Kopf auf der Tasche, das Reiben der
Haare auf der groben Textur, vertrautes Schlafgeräusch. Wenigstens den Paß hätte ich einstecken sollen! Ade, meine blaue Reisetasche!
Aber es war nicht der Paß, sondern, in einem Luftpostumschlag steckend, das Foto, wovon ich nicht loskam. Am Tag vor dem Abflug war es
mir wieder in die Hände gefallen. Ich hatte es, um es nicht wieder zu verlieren, in den nächstbesten Umschlag gesteckt und in das Seitenfach der
Reisetasche geschoben. Uralt, verblichen. Eins der wenigen Photos, das überhaupt aus den früheren Jahren der Mutter geblieben ist. Sie steht
leicht vornübergebeugt. Der Kopf ist zurückgedreht, das Gesicht im Profil zu sehen. Eine labile Balance. Als horche sie nach vorn, bereit loszulaufen;
dabei blickt sie über die Schulter zurück, als sei da noch etwas, das sie nicht losläßt.
Die Museumstür, das Foyer, der Kartenschalter.
Von irgendwo hinter mir der Geruch von Ziegenstall oder Schafstall. Der Blickschwenk über die spiegelnde Fläche der ockerfarbenen Steinplatten.
Etwa fünf Schritte entfernt, in der Spiegelung der schräg einfallenden Sonne stand der Taxifahrer.
Er und ich, die einzigen Museumsbesucher weit und breit.
Zwei Finger vor die Scheibe des Kartenschalters gehalten, zwei Karten, die mir zugeschoben wurden, zwei Karten, mir abgenommen und eingerissen
am Einlaß.
[...]


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